Ist Reflux ein Risikofaktor für COVID-19?
Es gibt kaum Daten dazu, inwiefern Reflux den Verlauf einer COVID-19-Infektion beeinflusst.
Einige Daten deuten an, dass es einen Zusammenhang zwischen Reflux und einem schweren Verlauf geben könnte. Jedoch spielt Reflux in jedem Fall eine untergeordnete Rolle zu anderen Risikofaktoren, wie hohes Alter und Vorerkrankungen wie Diabetes, Asthma, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Stiller Reflux reizt den Rachen und die Atemwege. Daten zeigen, dass Atemwegserkrankungen einen Risikofaktor bei einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 darstellen: Wer unter Atemwegserkrankungen leidet, hat ein höheres Risiko für einen schweren Infektionsverlauf.1
Auch laut der Refluxexpertin Dr. Jamie Koufman sind Personen mit Stillem Reflux anfälliger für eine Infektion der oberen Atemwege. Der Reflux schädigt die Schleimhäute im Rachen und in der Nase, wodurch ein Virus leichter in die Zellen eindringen kann. Sie beobachtet in ihrer Praxis, dass Patienten mit Stillem Reflux häufig Atemwegsinfektionen bekommen und dass die Häufigkeit zurückgeht, sobald der Reflux unter Kontrolle ist.2
Bedeutet das, dass Stiller Reflux ein Risikofaktor für COVID-19 darstellt?
Säure macht Zellen anfälliger für SARS-CoV-2-Infektion
Es gibt keine Untersuchungen, die analysiert haben, wie sich Stiller Reflux auf den Verlauf einer Coronavirusinfektion auswirkt.
Aber es gibt einen plausiblen Mechanismus, nach dem Stiller Reflux den Verlauf einer COVID-19 beeinflussen könnte. Und zwar führt Säure dazu, dass Zellen vermehrt ACE2 auf ihrer Zelloberfläche exprimieren.3 ACE2 ist ein Rezeptormolekül, das SARS-CoV-2 nutzt, um in die Zelle einzudringen.4 Eine große Anzahl an ACE2-Molekülen erleichtert es dem Virus also, eine Zelle zu infizieren. Es ist bekannt, dass die Zellen, die die Speiseröhre auskleiden, bei Patienten mit Barrett-Ösophagus (eine Reflux-Folgeerkrankung) mehr ACE2-Moleküle auf der Oberfläche haben als bei gesunden Menschen.
In einer in vitro Studie konnte gezeigt werden, dass der pH-Wert tatsächlich Einfluss sowohl auf die Anzahl der ACE2-Moleküle als auch auf eine Infektion mit SARS-CoV-2 hat. Wissenschaftler haben menschliche Monozyten (Immunzellen) bei verschiedenen pH-Werten (pH 6 – 7,4) kultiviert und mit SARS-CoV-2 infiziert. Die Zellen, die in Medium mit saurem (niedrigem) pH-Wert kultiviert wurden, hatten mehr ACE-2-Moleküle auf ihrer Oberfläche und produzierten mehr Viren als Zellen in Medium mit höherem pH-Wert.3
Bestätigen klinische Daten die Ergebnisse?
Vermutlich reagieren die Zellen in den Schleimhäuten in Hals und Atemwegen ähnlich auf Säure. Allerdings gibt es dazu dem aktuellen Wissensstand nach keine Untersuchungen. In Bezug auf den Krankheitsverlauf gibt es nur Daten zu Reflux allgemein, nicht zu Stillem Reflux.
Um der Frage nachzugehen, ob Refluxpatienten ein erhöhtes Risiko für einen schweren Infektionsverlauf haben, wurden Patientendaten von Krankenhäusern in Brasilien analysiert. Patienten, die aufgrund von COVID-19 ins Krankenhaus eingewiesen wurden und bisher Protonenpumpeninhibitoren (PPI) eingenommen hatten, hatten ein 2-3-Mal so hohes Sterberisiko wie Patienten, die diese Medikamente nicht einnahmen.3
Es muss dazu gesagt werden, dass die Einnahme von PPI lediglich als Kriterium diente, um Personen mit Reflux bzw. Verdauungsbeschwerden zu identifizieren. Es wurde nicht untersucht, ob die Patienten tatsächlich Reflux hatten oder ob die Schwere des Refluxes einen Einfluss auf die Sterberate hatte. Daher ist es also schwer zu sagen, inwiefern Reflux tatsächlich den Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion beeinflusst. Es ist theoretisch auch möglich, dass Protonenpumpeninhibitoren eine Auswirkung auf den Verlauf haben.
Ein 2-3-fach erhöhtes Sterberisiko klingt erst mal viel. Aber du musst bedenken, dass es sich um eine einzelne, relativ kleine Studie handelt, die zudem viele Schwächen aufweist. Sie lässt vermuten, dass Reflux tatsächlich ein Risikofaktor für COVID-19 darstellt. Aber wie stark Reflux den Infektionsverlauf beeinflusst, lässt sich mit den angewandten Methoden nicht sagen.
COVID-19 verursacht Verdauungsprobleme
Es gibt auch Hinweise, dass eine SARS-CoV-2-Infektion Reflux verursachen kann. Oftmals werden im Zusammenhang mit COVID-19 Verdauungsprobleme beobachtet, die auch erst einige Zeit nach der Infektion auftreten können.5 Es handelt sich also um eine Spätfolge, die allgemein als Long-Covid bezeichnet wird.
Als Folge der Verdauungsprobleme kann es auch zu Reflux kommen. Somit kann COVID-19 Reflux indirekt auslösen oder verstärken.
H2-Rezeptor-Blocker wirken sich möglicherweise positiv aus
Im Zusammenhang mit Reflux gibt es noch eine weitere interessante Beobachtung.
Und zwar können möglicherweise manche Reflux-Medikamente den Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion positiv beeinflussen. Der H2-Rezepter-Blocker Famotidin erhielt viel Aufmerksamkeit in den Medien – unter anderem weil Donald Trump damit wegen seiner Infektion mit dem Coronavirus behandelt wurde.
Es ist schon länger bekannt, dass H2-Rezeptor-Blocker eine antivirale Wirkung besitzen und beispielweise die Replikation des HIV reduzieren können.6 2 kleine Studien weisen darauf hin, dass sie bei SARS-CoV-2 einen ähnlichen Effekt haben könnten. In einer Studie wurden 110 Patienten mit schwerem COVID-19 für mindestens 48 Stunden mit 2-Mal täglich 20 mg Famotidin und 10 mg Cetirizin behandelt. Cetirizin ist ein Antihistaminkum, das H1-Rezeptoren blockt und zur Behandlung von allergischen Reaktionen zum Einsatz kommt.
Die Patienten hatten eine geringere Sterblichkeit und die Symptome verschlimmerten sich nicht so stark, wie aufgrund von veröffentlichten Daten zu erwarten gewesen wäre.7 Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass die Medikamentenkombination bei einer Coronavirusinfektion helfen könnte. Da auch diese Studie viele Schwächen aufweist und noch nicht einmal eine Kontrollgruppe hatte, lässt sich dies jedoch bis jetzt nicht mit Gewissheit sagen.
Eine weitere Studie lieferte ähnliche Ergebnisse: 10 COVID-19-Patienten wurden mit 20 – 160 mg Famotidin bis zu 4-mal täglich in einem Zeitraum von 5 bis 21 Tagen behandelt.8 Die sehr geringe Anzahl der Probanden und das Fehlen einer Kontrollgruppe lässt auch hier keine eindeutigen Aussagen zur Wirksamkeit zu.
Reflux ist kein eindeutiger Risikofaktor für COVID-19
Es gibt kaum Daten dazu, inwiefern Reflux den Verlauf einer COVID-19-Infektion beeinflusst.
Es ist denkbar und logisch, dass ein Atemwegsreflux die Wahrscheinlichkeit für eine schwere Covid-19 Erkrankung erhöhen kann. Insbesondere, wenn der Atemwegsreflux mit Symptomen in der Lunge einhergeht und Atemprobleme verursacht. Jedoch ist dies nur bei einem sehr kleinen Anteil der Refluxbetroffenen der Fall.
Da COVID-19 auch den Verdauungstrakt betreffen kann, kann eine Infektion Refluxsymptome auslösen oder verstärken.
Generell dürfte Reflux eine untergeordnete Rolle bei den Risikofaktoren spielen. Ein hohes Alter und Vorerkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind eindeutigere Risikofaktoren.1 Wenn Reflux ein ähnlich großer Risikofaktor für COVID-19 wäre, gäbe es wahrscheinlich eindeutigere Daten dazu.
Dennoch gibt es viele Gründe, deinen Reflux unter Kontrolle zu bekommen. Reflux beeinträchtigt deine Lebensqualität und richtet Schäden in der Speiseröhre und in den Atemwegen an. In der Regel lässt sich sowohl klassischer Reflux als auch Stiller Reflux mit einer Anpassung der Ernährungsgewohnheiten gut behandeln.
Quellen
1. Zheng Z, Peng F, Xu B, et al. Risk factors of critical & mortal COVID-19 cases: A systematic literature review and meta-analysis. J Infect. Aug 2020;81(2):e16-e25. doi:10.1016/j.jinf.2020.04.021
2. Trump Was Put on Pepcid – Here’s Why That’s Smart. Dr. Jamie Koufman. Accessed 18. März 2021, https://jamiekoufman.com/pepcid-coronavirus-is-misunderstood/
3. Jimenez L, Codo AC, de Souza Sampaio V, et al. The influence of pH on SARS-CoV-2 infection and COVID-19 severity. medRxiv. 2020:2020.09.10.20179135. doi:10.1101/2020.09.10.20179135
4. Hoffmann M, Kleine-Weber H, Schroeder S, et al. SARS-CoV-2 Cell Entry Depends on ACE2 and TMPRSS2 and Is Blocked by a Clinically Proven Protease Inhibitor. Cell. Apr 16 2020;181(2):271-280 e8. doi:10.1016/j.cell.2020.02.052
5. Weng J, Li Y, Li J, et al. Gastrointestinal sequelae 90 days after discharge for COVID-19. Lancet Gastroenterol Hepatol. May 2021;6(5):344-346. doi:10.1016/S2468-1253(21)00076-5
6. Bourinbaiar AS, Fruhstorfer EC. The effect of histamine type 2 receptor antagonists on human immunodeficiency virus (HIV) replication: identification of a new class of antiviral agents. Life Sci. 1996;59(23):PL 365-70. doi:10.1016/s0024-3205(96)00553-x
7. Hogan Ii RB, Hogan Iii RB, Cannon T, et al. Dual-histamine receptor blockade with cetirizine – famotidine reduces pulmonary symptoms in COVID-19 patients. Pulm Pharmacol Ther. Aug 2020;63:101942. doi:10.1016/j.pupt.2020.101942
8. Janowitz T, Gablenz E, Pattinson D, et al. Famotidine use and quantitative symptom tracking for COVID-19 in non-hospitalised patients: a case series. Gut. Sep 2020;69(9):1592-1597. doi:10.1136/gutjnl-2020-321852